Haben sich chinesische Hochschulen strukturell immer noch nicht völlig von den Zeiten der Planwirtschaft verabschiedet? Der Soziologe Li Dun Dun (李楯) über Gründe, weshalb es die dringend notwendige Internationalisierung des Hochschulbetriebs noch schwer hat.
Internationalisierung: ein weiter Weg
Auch wenn jede Hochschule durchaus ihr eigenes Profil haben kann, so zeigen sich doch bei der Betrachtung entsprechender Hochschulrankings immer noch grundsätzliche Unterschiede zwischen den heutigen chinesischen Hochschulen und ausländischen Hochschulen.
Nachdem sich (in der Folge des 2. Weltkriegs, Anm. d. Übers.) eine neue Weltordnung herauskristallisiert hatte, erlebte China noch einmal eine Phase der Isolation, die weder die Industriestaaten noch andere Entwicklungsländer in ähnlicher Weise durchgemacht haben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte es in China bereits staatliche Universitäten wie die Peking-Universität und die Tsinghua-Universität, private Universitäten wie die Nankai-Universität und die Fudan-Universität und christliche Universitäten wie die St. John Universität, die Huaxi-Universität, die Yanjing-Universität und die Fujen-Universität gegeben. Obwohl es im Vergleich zu europäischen und amerikanischen Hochschulen junge Universitäten waren, konnten sie große Gelehrte für sich gewinnen und hervorbringen. Ihre Professoren und Studenten haben die chinesische Entwicklung einer Epoche auf so zahlreichen Gebieten wie der Geistesgeschichte, der Kultur, der Wissenschaft, der Technik, der Wirtschaft, der Gesellschaft und der Politik maßgeblich geprägt. Außerdem bestanden enge Kontakte mit dem Ausland, so dass man sie alle als internationalisierte Universitäten bezeichnen kann – bedauerlicherweise waren diese Jahre eine Zeit großen Elends und ständiger Kriegsunruhen. 1952 fand in Chinas Universitäten die ideologische Umerziehung der Intellektuellen und eine Umorganisation der Fakultäten und Abteilungen statt. Das dieser Zeit entstammende System und Bildungskonzept schuf die wesentlichen Unterschiede zwischen den heutigen chinesischen Hochschulen und den Universitäten in anderen Ländern der Welt.
In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts begann in China allmählich eine Phase der Transformation. Seitdem versuchen Pädagogen und Intellektuelle die chinesischen Hochschulen zu reformieren und den Einfluss des in den 50er und 60er Jahren entstandenen Bildungskonzepts mit seinen Reglements auszumerzen. Dies erweist sich als sehr schwierig – zumindest braucht es Zeit.
Als Erstes erklärten sie, dass sie die Hochschulen wieder an den Ausgangspunkt des Bildungswesen stellen wollten – Ziel der Bildung sollte es sein, jedem Menschen eine Lebensgrundlage zu geben, mittels der er mit anderen Menschen zusammenleben und arbeiten und auf der er studieren und sein Leben bestreiten könne. Sie sollte nicht mehr wie zuvor Indoktrination und die bloße Weitergabe von Wissen und Fertigkeiten sein und eine als „revolutionäre Nachhut“ fungierende politische Elite heranziehen.
Hierbei stellen sich drei Grundfragen:
Bildung für alle oder nur Elitenförderung – wenn auch nur ein Teil der Menschen eine Hochschule besuchen kann, ist Hochschulausbildung schließlich doch ein Bestandteil der Bildung.
Ist Bildung die Grundlage für das Leben oder bestimmt sie die Lebensziele und -wege der Menschen?
Versteht Bildung sich als Erziehung zu „moralisch integren Menschen“ sowie zu „vernünftigem Handeln“ oder zieht Bildung „angepasste Technokraten“ heran, die vielleicht „willige kreative Köpfe“ sind. Ich teile die Ansicht, dass Kreativität „nicht anerzogen, aber zerstört und erstickt werden kann“. Demzufolge kann eine Ausbildung, die darauf abzielt „kreative Köpfe“ heranzuziehen, letztendlich höchstens nur einige herausragende „fügsame Technokraten“ hervorbringen, der Preis dafür ist, dass niemandem genutzt ist.
Zweitens sollte die Hochschule ein geordneter Freiraum werden, in dem von Gesellschaft und Staat abweichende Verhaltens- und Denkweisen, Maßstäbe und Anschauungen existieren. Wenn Bildung unabhängig wäre, die Professoren die Hochschule verwalteten und die Studenten mitbestimmen würden, dann hätten die in der Forschung und in der Erkenntnistheorie gültigen Methoden und Gepflogenheiten einen speziellen Raum, in dem sie gepflegt und bewahrt würden. Den Gedanken könnte freier Lauf gelassen werden, sie würden sich gegenseitig anregen und anspornen und es könnte sich so „nutzloses Wissen“ und „nützliches Wissen“ herausbilden und entwickeln.
Wenn umgekehrt die Lehre nicht frei und das Lernen nicht selbstbestimmt ist, wenn Leistungskontrollen bei Professoren und Studenten wie bei Arbeitern am Fließband erfolgen, „nutzloses Wissen“, also alle Studiengänge mit geringen beruflichen Perspektiven bzw. Fächer, die keinen beruflichen Bezug haben, diskreditiert werden, oder wenn durch das System, welches alle Menschen und Ressourcen zentralisiert, mit „vereinter Kraft der gesamten Nation“ wissenschaftliche Schwierigkeiten ausgeräumt und Forschungsinstitutionen errichtet werden, dann entspricht das nicht der Rolle, die eine Hochschule haben sollte.
In China sind die Hochschulen, die während der Planwirtschaft entstanden sind, ebenso wie die Staatsunternehmen vor der Wirtschaftsreform nur „Anhängsel der Regierungsbehörden“ („Beschluss über die Wirtschaftsreform“ des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei im Jahr 1984). An dieser Situation hat sich bis heute nicht geändert.
Deshalb sind heute die Hochschulen in China und die Hochschulen in anderen Ländern – so wie Wissenschaftler es auch bei anderen gesellschaftlichen Institutionen feststellen – „in der Form identisch, aber in ihrem Wesen unterschiedlich“. Identisch in der Form bezieht sich auf die Lehre, die Forschung und die Publikationen; der Unterschied im Wesen beruht darauf, dass man die parteipolitischen Strukturen und Normen sowie die Denk- und Arbeitsweisen aus der Zeit der Planwirtschaft gänzlich beibehalten hat.
Die chinesischen Hochschulen können ihre Reformen nur schwer allein bewältigen, sie sind auf gesamtgesellschaftliche Veränderungen angewiesen, wodurch auch die „umfassende Reform“, die von der regierenden Kommunistischen Partei bereits vor vielen Jahren angekündigt wurde, in Gang gebracht und in die Tat umgesetzt würde.
Internationalisierte Hochschulen sind grenzüberschreitend und gehören damit der Welt und der Menschheit; es gibt sie nur im Sprachkontext der Globalisierung. Ihr Leitgedanke ist die Erkenntnis, dass alle Menschen verschieden sind; der Mensch ist der Ausgangspunkt und nicht das Land oder irgendetwas anderes. Internationalisierte Hochschulen tragen den Geist der Hochschulen weiter, sind nur dem Denken und der Wissenschaft verpflichtet, gehen beharrlich den grundlegenden Fragen der Menschheit auf den Grund und suchen nach Lösungen, sie werden nicht von eigennützigen Interessen, Machtstreben oder Ideologien gelenkt – was sie in sich bergen, gehört der Welt und der Menschheit. Eine Hochschule hat zwar eigene Traditionen, Anschauungen und Reglements, aber sie verdrängen keine anderen ideologischen oder wissenschaftlichen Meinungen; ihre Ergebnisse gehören auch der Welt und der Menschheit, gefragt wird nur nach dem intellektuellen und wissenschaftlichen Niveau und nach der Qualität, nicht nach der Nationalität des Wissenschaftlers oder anderem.
Die Internationalisierung der chinesischen Hochschulen ist notwendig für die Entwicklung Chinas und für die Entwicklung der Menschheit.
Text: Li Dun (李楯)
Soziologe, Professor am Center for Contemporary China an der Tsinghua-Universität in Peking
Übersetzung: Andrea Schwedler
September 2011