Deutsche Universitäten, so Prof. Helmut Wilke von der Zeppelin University Friedrichshafen, sind desintegrierte Systeme, die kaum Raum für Inspiration lassen. Ein Plädoyer zum „Querdenken“ über Disziplinen und Paradigmen hinweg.
Die deutsche Universität: Vom Elfenbeinturm zum Leuchtturm?
Die deutschen Universitäten haben mit dem Bologna-Prozess begonnen, dringend nötige Reformen einzuleiten. Ein Anfang ist gemacht, aber die Hauptaufgaben sind noch nicht erledigt. Die Leuchtturmrhetorik der Exzellenzinitiativen verkennt, dass Leuchttürme heute nur noch museale Bedeutung haben und längst durch neue Orientierungstechnologien bis hin zum GPS abgelöst worden sind. Der folgende Text beleuchtet eher die Schwächen der deutschen Universität als die – durchaus vorhandenen – Stärken, um so die kritische Auseinandersetzung zu befördern. Zunächst werden die beiden Hauptaufgaben der Universität – Forschung und Lehre – unter den veränderten Bedingungen der Wissensgesellschaft beschrieben und ihre positive Verknüpfung betont. Der zweite Teil des Textes behandelt die veränderten Herausforderungen der Universität durch Globalisierung und Wissensgesellschaft.
Die klassischen Aufgaben der Universität sind Forschung und Lehre. Allerdings ist dies unter gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen zu spezifizieren: Das Spezifikum der Universitätsforschung ist Grundlagenforschung und erst nachrangig und darauf aufbauend eine anwendungsorientierte Forschung. Das Spezifikum ihrer Lehre ist Ausbildung in „professional schools“ und in den relevanten Professionen einer gegebenen Gesellschaft. Mit dieser Spezifizierung wird deutlich, dass gegenüber einem verbreiteten Vorurteil die beiden Kernfunktionen der Universität, Grundlagenforschung und professionelle Ausbildung, nicht auseinanderrücken, sondern im Gegenteil näher zusammenwachsen.
Diese Sichtweise setzt allerdings einige Veränderungen im Verständnis von universitärer Ausbildung und Grundlagenforschung voraus. Ohne ins Detail gehen zu können, möchte ich folgende Merkmale universitärer Ausbildung festhalten:
Bei allen Professionen handelt es sich um Berufe, die darauf zielen, Interventionen in hochkomplexe dynamische Systeme zu setzen. Jede professionelle Tätigkeit ist daher eine Kunst des Umgangs mit Ungewissheit, Intransparenz und Risiko. Ausbildung in Professionalität hat daher weniger mit Inhalten und viel mit Reflexionsfähigkeit in ungewissen und komplexen Kontexten zu tun. Was universitäre Lehre demnach leisten soll, ist inspirierte Professionalität, also eine geglückte Verbindung von Forschergeist und disziplinierter Sinnproduktion.
Damit ist auch schon klar, dass diese Art von Lehre eng mit Forschung selbst verknüpft sein muss. Allerdings mit einer Art von Grundlagenforschung, die wiederum ganz spezifische Merkmale aufweist: Grundlagenforschung meint nicht Anwendungsferne, sondern Theoriedominanz. Grundlagenforschung ist nur Grundlagenforschung, wenn sie theoriegetrieben und theorietreibend operiert. Zusätzlich schließt ein Primat der Grundlagenforschung an der Universität eine darauf aufbauende anwendungsorientierte Forschung nicht aus. Aber letztere ist kein Spezifikum der Universität. Hier konkurriert die Universität mit einer Vielzahl von Forschungseinrichtungen, von Think Tanks bis zu den Forschungszentren globaler Unternehmen.
Wenn es gelingt, Forschung und Lehre in der skizzierten Spezifizierung als Kernkompetenzen der Universität zu realisieren, rücken sie deutlich enger zusammen als dies bislang der Fall ist. Denn Lehre für eine inspirierte Professionalität zielt darauf, Neugier und Disziplin mit Komplexitätssteigerung und der Fähigkeit des Umgangs mit hoher Komplexität zu verbinden. Damit rücken Kreativität und Innovationsfähigkeit zu Kernkompetenzen jeder Professionalität auf – und adäquate Universitätsausbildung hat dann die Aufgabe, diese Kernkompetenzen zu vermitteln.
Was erwartet die Universität in der Wissensgesellschaft? Es ist nicht mehr die Welt Humboldts, nach der sich gerade die deutsche Universität nach wie vor heimlich sehnt. Aber es ist auch nicht die Welt einer naiven Fortschrittsgläubigkeit, in der mehr Forschung und mehr Wissen automatisch zu einer besseren Welt führen. Vielmehr ist es eine Welt, die durch zwei fundamentale Herausforderungen gekennzeichnet ist: Globalisierung und Wissensgesellschaft.
Globalisierung dürfte das Universitätssystem am wenigsten überraschen, denn es hat seine Karriere als „universales“ System begonnen. Dennoch bringt Globalisierung lange schwelende Schwächen der deutschen Universität stärker ins Relief:
Die deutsche Universität ist nicht konkurrenzfähig. Im globalen Maßstab sind die deutschen Unis bestenfalls Mittelmaß. Keine einzige deutsche Uni taucht auf den vorderen Plätzen der angesehensten Unis der Welt auf. Die deutsche Universität nimmt ihre Kunden nicht ernst. Studierende sind Kunden einer präsumtiven Hochleistungsorganisation. Allerdings hat die Universität noch nicht bemerkt, dass sie eine Hochleistungsorganisation sein sollte. Die Universitäten in Deutschland sind keine Knotenpunkte globaler Vernetzung. Die Gründe sind sicherlich vielfältig und kompliziert und nicht zuletzt der Sprache geschuldet. Die Universitäten in Deutschland sind keine Orte der Inspiration. Ließe sich auch nur eine einzige global bewegende Idee nennen, die in den letzten Jahrzehnten aus deutschen Universitäten gekommen ist?
Der Beginn der Wissensgesellschaft sollte eigentlich der Universität neuen Aufschwung verleihen. Dem ist nicht so, weil die Universitäten diese Transformation noch kaum wahrgenommen haben. Gemessen an den Anforderungen der Wissensgesellschaft lassen sich einige gravierende Defizite der gegenwärtigen Universität ableiten:
Die Universität ist noch kein intelligentes System. Die europäischen Universitäten sind ein Hauptbeispiel für Organisationen, die sich nicht schnell und nachhaltig genug auf neue Herausforderungen ihrer Umwelt eingestellt haben und in diesem Sinne „dumm“ sind. Dumm sind sie, weil ihre organisationale Intelligenz bestenfalls auf der Stufe der Humboldtschen Reformen stehengeblieben ist. Die Humboldtschen Reformen haben zu Beginn des 19. Jahrhunderts die deutschen Universitäten optimal auf die neuen Herausforderungen der beginnenden bürgerlichen Industriegesellschaft vorbereitet. Mit dieser Passung von System und Umwelt waren die Universitäten „intelligente“ Systeme. Der Erfolg hat die Universität allerdings lernunwillig gemacht, und so ist sie während einer langen Phase der verweigerten Veränderung unintelligent geworden. Das systemische Innovationspotential der Universitäten ist ungenügend, wenn man es daran misst, ob es ihnen gelingt, die ihnen von ihrer Umwelt, ihren Klienten und ihren Mitgliedern gestellten Probleme zu lösen.
Die Universität ist ein desintegriertes System. Immer noch beharrt jede Teildisziplin auf ihrer Exklusivität und schirmt sich eifersüchtig gegenüber Grenzgängern ab.
Die Universität ist ein reformresistentes System. Zwar gibt es inzwischen eine verbreitete und verzweigte Reformdiskussion, vor allem im Gefolge von Bologna. Aber man sollte sich keine Illusionen über Geschwindigkeit und Reichweite kommender Reformen machen.
Immerhin gibt es erste Zeichen einer positiven Entwicklung, die vor allem einige private und die staatlichen „Exzellenz“-Universitäten aufweisen: eine forschungsorientierte Lehre und eine die Lehre prägende Herausforderung zum „Querdenken“, d.h. zum Denken quer über verschiedene Disziplinen und Paradigmen hinweg. So bieten manche Universitäten wie etwa die Zeppelin University ein gemeinsames erstes Jahr, in dem die Studierenden aller Departments gemeinsame übergreifende Seminare besuchen. Es ist bemerkenswert, wie positive die Studierenden auf dieses Angebot reagieren. Sie spüren, dass in einer globalisierten Wissensgesellschaft spezialisiertes Fachwissen nicht ausreicht.
Prof. Dr. Helmut Willke, Jahrgang 1942, studierte Rechtswissenschaft und Soziologie in Tübingen und Köln und promovierte 1975. Ab 1983 lehrte er Soziologie an der Universität Bielefeld, seit 2002 war er dort Professor für Staatstheorie und Global Governance. Willkes Forschungsschwerpunkte sind Systemtheorie, Staatstheorie, globale Steuerungsregime und Wissensmanagement. Seit dem Wintersemester 2008 ist er Professor für Global Governance an der Zeppelin University Friedrichshafen.
Text: Prof. Helmut Willke
September 2011