Wie lässt sich in der modernen Gesellschaft ein Mechanismus zur Ausbildung von moralisch einwandfreien Menschen einrichten, der auch auf die eigenen Traditionen Bezug nimmt, fragt der Wirtschaftswissenschaftler Qiu Feng (秋风).
China braucht Universitäten zur Charakterbildung
Die chinesische Hochschulbildung steht heute vor zahlreichen Problemen, eines ihrer größten ist jedoch, dass es an Institutionen mangelt, die den Charakter bilden.
Seit alter Zeit gab es in China den Begriff des „junzi“ (君子), des moralisch einwandfreien Ehrenmannes. Spätestens in der Zhou-Dynastie war von ihm die Rede. Zunächst bezeichnete dieser „Edle“ einen Aristokraten. Zu einer Zeit, als das feudale System zu bröckeln begann, erfuhr der Begriff mit Konfuzius einen Bedeutungswandel: Selbst ein Mensch, der zum gemeinen Volk zählte, galt als Edler, solange er nur moralischen Anstand besaß. Von nun an konnte jeder zum Ehrenmann werden, und für die Chinesen bestand das Ideal eines Menschen darin, ein solcher zu sein.
Der Edle, den Konfuzius im Sinn hatte, kommt in etwa dem nahe, was die Europäer einen „Gentleman“ nennen. Beide betonen sowohl die Tugendhaftigkeit als auch eine Weltgewandtheit, die sich in den Dienst der Gesellschaft stellt. Allerdings liegt beim konfuzianischen „junzi“ im Vergleich zum Gentleman der Akzent noch mehr auf Bildung und Lebensweisheit. So kommt es, dass ein Edler zunächst der Bildung bedarf.
Die zentrale Frage bei Konfuzius und in der gesamten konfuzianischen Tradition drehte sich darum, wie man durch angemessene Erziehung einen edlen Charakter kultivieren könne. So wurde die Ausbildung des moralisch einwandfreien Menschen zum grundlegenden Ziel der konfuzianischen Erziehung. Eine der herausragenden Leistungen des Konfuzius war es, Institutionen gegründet zu haben, die den einfachen Mann zum Ehrenmann machten: Konfuzius gründete die erste Universität Chinas, die ihrem Wesen nach den Universitäten der europäischen Feudalzeit ähnelte. Mit dem Unterschied, dass Konfuzius seine aus dem gemeinen Volk stammende Anhängerschaft zu edlen Menschen erziehen wollte. Auch nach Konfuzius ging es stets um die Bildung des edlen Charakters, egal ob die Konfuzianer der Han-Zeit ihre Schüler zuhause unterwiesen oder die Konfuzianer der Song-Zeit Akademien einrichteten.
Schließlich war in den Augen der Konfuzianer der edle „junzi“ die Basis einer geordneten Gesellschaft. Diese Ehrenmänner verfügten über Wissen, besaßen moralischen Anstand und verstanden sich zudem auf die Kunst und Weisheit der Staatsführung. Mittels dieser Qualitäten konnten sie das allgemeine Vertrauen der Bevölkerung gewinnen und die Selbstregulierung der Gesellschaft anleiten und organisieren. Zudem hatten sie Zugang zu den Regierungsorganen, konnten Ämter bekleiden und ihre idealistischen Vorstellungen in die Regierung einfließen lassen.
Gerade weil China sich auf diese Gruppe stützen konnte, gelang es ihm als einer ständig expandierenden Gemeinschaft, über drei Jahrtausende eine einigermaßen vernünftige Ordnung aufrechtzuerhalten. Diejenigen, die im modernen China maßgeblich zu einer Verfassung beigetragen haben, darunter Kang Youwei (康有为), Liang Qichao (梁启超) oder Carsun Chang (张君劢), ja auch Sun Yat-sen (孙中山), Huang Xing (黄兴) und Chiang Kai-shek (蒋介石), waren allesamt konfuzianische Edelmänner. Tatsächlich beruhte die Funktionstüchtigkeit der traditionellen Gesellschaft auf der Existenz eines Systems zur moralischen Bildung.
Bedauerlicherweise geriet diese Tradition zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die Krise. China schaffte die kaiserlichen Beamtenprüfungen ab und führte stattdessen ein modernes Hochschulsystem ein. In Europa hatte es stets elitäre Mittelschulen und Eliteuniversitäten gegeben, die auch in der Moderne fortfuhren, Gentlemen auszubilden. Die Einführung des Hochschulwesens in China folgte indessen einer stark pragmatischen und utilitaristischen Zielsetzung. Man wollte den Westen so schnell wie möglich ein- und überholen und so wurde der Fokus vor allem auf die moderne Wissenschaft und Technik beziehungsweise auf das Ingenieurwesen gelegt. Die geisteswissenschaftliche Bildung wurde von den Hochschulbehörden stiefmütterlich behandelt, dabei war gerade diese für die Erziehung zu Edelmännern und Gentlemen ausschlaggebend.
Gleichzeitig mit dem Aufbau des Hochschulwesens in China kam es im Land zu einer radikalen und allumfassenden Bewegung gegen das traditionelle Denken, die mit der Parole antrat, den „Konfuziusladen“ zu zerschlagen. Die über hunderte von Jahren, ja fast ein Jahrtausend bewährte traditionelle konfuzianische Erziehung, etwa in Form der von den Konfuzianern in der Song-Dynastie gegründeten Akademien, wurde ohne viel Federlesen kompromisslos abgeschafft. Das Studium der konfuzianischen Klassiker, eine über zweitausendjährige Tradition, hatte in den Universitäten keinen Platz mehr und fiel der Vergessenheit anheim. Dies war von ähnlicher Tragweite, als würde es in der westlichen Welt keine Theologie und keine klassischen Studien mehr geben.
In der Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die utilitaristische Neigung bis zum Extrem. Als 1952 die akademischen Institutionen neu geordnet wurden, brach man mit der Bildungs- und Forschungstradition der an sich schon unterentwickelten Geistes- und Sozialwissenschaften. Die nach sowjetischem Modell umgestalteten Universitäten verwandelten sich generell in fachtechnische Berufsschulen. Hauptaufgabe der Universitäten war es, Ingenieure auszubilden, zugleich oblag ihnen die Durchführung der ideologischen Indoktrinierung. Die Menschen, die aus diesem Drill hervorgingen, hatten moralische Defizite und sie verfügten auch nicht über die Kunst und Weisheit des Regierens.
Seit den 1980er Jahren hat sich diese Extremsituation etwas entspannt. Allerdings ist der Geist des Pragmatismus inzwischen tief im Corpus der Universität verwurzelt. Derzeit findet er in der Kommerzialisierung eine neue Erscheinungsform. Von kommerziellen Absichten getrieben expandieren die Universitäten rasant. Die Hochschulen orientieren sich im Allgemeinen an den Bedürfnissen der Geschäftswelt und bilden Menschen aus, die ein Händchen dafür haben, Geld zu verdienen.
Kurzum, die chinesische Bildung hat sich im 20. Jahrhundert immer weiter von der Bildungstradition des konfuzianischen Edlen entfernt. Die Hochschulbildung ist zusehends verroht und die Tradition der geistig-moralischen Bildung erfuhr einen Bruch. Mit dem
Niedergang der edlen „junzi“ wurde auch die Ordnung der chinesischen Gesellschaft immer desolater. Bei denjenigen, die in der Gesellschaft die Verfügungsgewalt hatten, handelte es sich entweder um Dorftyrannen und lokale Banden oder um die wie aus dem Nichts aufgetauchten bewaffneten Anhänger der Revolutionspartei. Auch mit der Integrität der Regierungsbeamten ging es deutlich bergab. Die Ursachen waren natürlich komplexer Natur, doch der Bruch mit der edelmännischen Erziehung spielte eine erhebliche Rolle.
Wenn China heute eine gute Regierungsordnung anstrebt, besteht eine wichtige Aufgabe darin, wieder ein System zur Kultivierung edler Moral zu etablieren, um eine Elite aufzubauen, die gleichermaßen über Anstand, Geschick und Weisheit verfügt. Wie aber ließe sich in der modernen Gesellschaft sowie im Rahmen der kulturellen Tradition ein Mechanismus zur Ausbildung von moralisch einwandfreien Menschen einrichten? Hierin liegt eine große Herausforderung. Ich halte zwei Wege für denkbar.
Erstens die Einführung einer geistig-moralischen Erziehung an den Universitäten. Viele Menschen mit Weitsicht haben in den letzten zehn Jahren bereits die Wichtigkeit der Elitenbildung erkannt und an den Universitäten anspruchsvolle humanwissenschaftliche Akademien oder geisteswissenschaftliche Pilotklassen eingerichtet. So lässt man einer Auswahl an Studenten eine Elitebildung zukommen, welche die Studierenden unter anderem darin anleitet, chinesische und westliche Klassiker zu lesen. Allerdings laufen bei allem Trubel des Hochschullebens Lehrer und Schüler stets Gefahr, von dem Trend zur Oberflächlichkeit erfasst zu werden.
Der zweite Weg ist womöglich praktikabler, auch wenn man dabei Neuland betritt. Er bestünde darin, die Form der traditionellen konfuzianischen Lehranstalten einem kreativen Wandel zu unterziehen und moderne Akademien einzurichten. Es gibt bereits einige Konfuzianer, die wieder Akademien eröffnet haben, in welchen sie die Schüler im Studium der konfuzianischen Klassiker anleiten. Allerdings sind derartige Akademien im Allgemeinen verhältnismäßig klein, so dass Studenten ganz unterschiedlicher Niveaus aufeinandertreffen. Außerdem legen sie zu wenig Wert auf moderne Geistes- und Sozialwissenschaften und die Lehren des Westens. Auf diese Weise können sie mit den normalen Universitäten nicht konkurrieren und sind für begabte junge Menschen kaum attraktiv.
Würde man die modernen Akademien offener gestalten, hätten sie wahrscheinlich mehr Zukunft. Diese modernen Akademien könnten in etwa so aussehen wie die kleinen geisteswissenschaftlichen Eliteinstitute in den USA. Schließlich können manche Eltern mit dem wachsenden Wohlstand der Chinesen die Bildung ihrer Kinder mittlerweile losgelöst von pragmatischen Zielen erwägen. Würde man eine moderne Akademie mit exzellentem Lehrpersonal und hervorragenden Bedingungen gründen, dürfte es wohl kaum an Interessenten mangeln. Sie würden die lange Tradition der klassischen Lehre fortsetzen. Durch die Lektüre westlicher und chinesischer Klassiker sowie durch die Teilnahme an allen möglichen öffentlichen Aktivitäten in- und außerhalb des Campus würden die Studierenden Kultur und Gesellschaft verstehen lernen, sie würden moralisches Verantwortungsgefühl und Führungsqualitäten entwickeln.
Nur weil jemand in den Genuss einer solchen Bildung kommt, heißt das natürlich noch lange nicht, dass er ein edler Mensch wird. Dieser muss sich erst in der Praxis beweisen. Nichtsdestotrotz ist eine solche Erziehung entscheidend für die Hebung der Moral. Die Ausbildung in solchen modernen Akademien wird den jungen Menschen am besten dabei helfen, sich, nachdem man sie in die Gesellschaft entlassen hat, zu moralisch integren Menschen zu entwickeln. Die Formierung und Ausweitung einer Gruppe von edlen Menschen ist die grundlegende Voraussetzung dafür, dass sich in der chinesischen Gesellschaft eine gesunde Ordnung etabliert.
Text: Qiu Feng (秋风)
Freier Wissenschaftler
Übersetzung: Julia Buddeberg
September 2011